Vor 80 Jahren: Verbot der Mutterstadter Arbeiter-Sport- und Kulturvereine

Veröffentlicht am 29.05.2013 in Allgemein

Mutterstadt. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 kam es auf dem Weg der „Gleichschaltung“ von Partei und Staat in ganz Deutschland zu Verboten, Auflösungen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen. Betroffen davon waren alle bestehenden Arbeiter-Sport- und Kulturvereine; nach dem Sprachgebrauch der Nazis „marxistische Vereinigungen“. Auch in Mutterstadt gab es damals diese sehr aktiven, im örtlichen Gemeinwesen fest verankerten Arbeitervereine.

Mitglieder der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hatten Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, sich in vielfältigen Freizeit- und Kulturaktivitäten zu organisieren. Diese Vereine für Sport, insbesondere die Turner, Schwerathleten und Radfahrer, aber auch für Kulturpflege wie Gesang, Bildung, Theater und Musik, standen auf dem Boden der sozialistischen Arbeiterbewegung. So war z.B. der Arbeiterradfahrerbund „Solidarität“ anfangs auch eine politische Gruppierung, die bei Wahlen für die SPD als „rote Kavallerie“ für die Verteilung von Flugblättern eingesetzt wurde.

Aus den Unterlagen des SPD-Ortsvereins, dessen Archiv von dem Ehrenvorsitzenden Harry Ledig verwaltet wird und aus den Akten des Gemeindearchivs geht hervor, dass es in Mutterstadt eine stark ausgeprägte Arbeitervereinskultur seit Ende des 19. Jahrhunderts gab. Im Sport waren das der 1892 gegründete Athleten-Club, später Vereinigter Freier Athleten-Club. Der AC , dem auch ein Spielmannszug angegliedert war, hatte mehrere hundert Mitglieder. Es gab den Arbeiter-Radfahrer-Bund „Solidarität“, den Arbeiter-Radfahrer-Bund „ „Frisch-Auf“, den Freien Sportverein mit Fußball sowie die Freie Turnerschaft. Im Gesang-, Musik- und Kulturwesen waren der Musik- und Vergnügungsverein „Auer-Klub“, später umbenannt in Freie Volksbühne, ein Theatralischer Verein, der Arbeiter-Gesangverein, der Arbeiter-Fortbildungsverein mit Buchausleihe, die Erste Mandolinen- und Zither-Vereinigung und der Freie Wander- und Vergnügungsklub „Edelweiß“ aktiv. Zu diesem SPD-nahen Vereinsspektrum gehörten noch die Arbeiter-Samariter-Kolonne, die Arbeiter-Wohlfahrt und auch die Ortsgruppe der Freireligiösen Gemeinde.

Die Gründe für diese Vielfältigkeit der damaligen Arbeitervereine lagen einmal in der im Kaiserreich tatsächlich vorhandenen Ausgrenzung der Arbeiter durch die bürgerliche Gesellschaft und zum anderen boten insbesondere die Arbeiterkulturvereine, neben der Geselligkeit auch die Möglichkeit der politischen Information und der Weiterbildung für diese damals noch weitestgehend „bildungsfernen“ Bevölkerungsschichten. Die Vereinsmitglieder und ihre Angehörigen fühlten sich wohl in der „sozialen Familie“, in der Solidarität großgeschrieben wurde: man kannte sich, man traf sich, man half sich.

Nach 1918 schlossen sich diese Vereine zum „Kartell der Freien Arbeiter-Vereine Mutterstadt“ zusammen: Vorsitzende des Ortskartells waren nacheinander Johannes Jöhl, Jakob Engel und Emil Weber. Daneben bestand auch ein „Bezirkskartell der Freien Arbeiter-Vereine Mutterstadt und Umgebung“, dem noch die Vereine aus Dannstadt, Fußgönheim, Schauernheim, Meckenheim und Ruchheim angehörten.

1924 stellte das Ortskartell eine Veranstaltungshalle auf dem westlichen Teil des heutigen Messplatzes auf. Die Halle umfasste einen Saal mit Bühne, Schankraum und Wohnung. In und vor der Halle fanden danach alle sportlichen und kulturellen Aktivitäten des Ortskartells statt. Nur die Fußballer spielten an der Fohlenweide. In der der Halle angeschlossenen Gaststätte wurden Vereinsangelegenheiten besprochen, aber auch immer politisiert und die Probleme der arbeitenden Bevölkerung diskutiert.

Die damaligen Mutterstadter Schwerathleten und Radfahrer waren sehr erfolgreich. Der Gewichtheber Ludwig Reimer und der Ringer Fritz Klein nahmen an der 1. Arbeiter-Olympiade in Frankfurt 1925 und die Straßen-Radfahrer bei der 2. Arbeiter-Olympiade 1931 in Wien teil.

Im Frühjahr 1933, vor jetzt 80 Jahren, kam dann das brutale politische Aus für die Arbeitervereine und das dörfliche Vereinsleben, das öffentliche Leben veränderte sich. Einige Vereinsfunktionäre wurden in sogenannte „Schutzhaft“ genommen und in einer ehemaligen Kaserne in Neustadt a.d.W. festgesetzt. Das Vereinsvermögen wurde eingezogen, die Gemeinde übernahm die Halle. Die Sportgeräte gingen an andere Vereine und Einrichtungsgegenstände, so z.B. auch das Klavier des Gesangvereins, wurden von Personen übernommen, die jetzt im Dorf das „Sagen“ hatten. Der Kassenbestand des AC wurde von dem damaligen Kassierer Wilhelm Renner gerettet: Vor dem Zugriff verteilte er noch schnell das Geld an die arbeitslosen Vereinsmitglieder; jeder erhielt 5,00 Reichsmark. Die neuen Machthaber waren nicht nur radikal in ihrem Vorgehen, sie waren auch kleinlich: Beschlagnahmt und eingezogen wurden von den Nazis auch noch Kleinstbeträge; so vom Athleten-Club 1,41 RM, vom Freien Sportverein 0,15 RM (!) und von der Freireligiösen Gemeinde 1,88 RM. Der Buchbestand des Ortskartells wurde von allem marxistischen und sozialistischen Gedankengut „befreit“ in die Gemeindebücherei eingegliedert.

Die Sporthalle des Ortskartells wurde von den örtlichen NS-Formationen genutzt und 1937 wegen Baufälligkeit abgerissen; die Gemeinde wurde Eigentümerin des Platzes, der dem Messplatz zugeschlagen wurde. 1950 zahlte die Gemeinde im Rahmen der Wiedergutmachung 1.500 DM. Um weitere Ansprüche geltend machen zu können, wurde dafür 1957 das Sportkartell rechtlich von Johannes Jöhl wieder gegründet. 1961, mit der endgültigen Entscheidung der beteiligten Behörden, Gerichte sowie der Gemeinde, dass keine finanziellen und sonstigen Verpflichtungen mehr gegenüber dem ehemaligen Orts-und Sportkartell bestehen würden, war das früher so erfolgreiche Vereinskapitel „Arbeitersport in Mutterstadt“ endgültig beendet.

Es gab nach dem Kriege dann wieder Vereinsgründungen, die sich in ihrer Tradition auf diese Arbeiter-Vereine beriefen, aber keine reinen Arbeitervereine mehr waren, sondern offen waren für alle Bevölkerungsschichten. So gehörten ehemalige Sänger des Arbeitergesangvereins bereits 1946 zu den Gründungsmitgliedern des neuen Gesangvereins „Liederkranz“ und der bis 1933 tätige Vorstand Emil Weber wurde auch Vorsitzender des neuen Vereins. Neu- bezw. Wiedergründungen gab es auch 1947 bei der Arbeiterwohlfahrt und 1954 beim Arbeiter-Samariterbund, der sich 1992 wieder auflöste. Die spektakulärste Neugründung in Mutterstadt gab es 1969, als sich die erfolgreichen Gewichtheber der TSG Mutterstadt vom Verein trennten und sich, in Erinnerung an die früheren sportlichen Erfolge der Mutterstadter Schwerathleten, zu einem neuen Verein mit dem alten Namen „Athleten-Club 1892“ zusammen schlossen. Auch sie feierten dann in der Folgezeit noch viele nationale und internationale Titel und Meisterschaften. (sc).

 

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